"Man muss keinen offenen Angriff auf die Demokratie in dieser Form erdulden", sagt der deutsche Integrationsforscher und Soziologe Kenan Güngör Montagabend nach der Demonstration für Kalifat und Scharia in Hamburg in der "ZiB 2". Bei Armin Wolf erklärt er sehr sachlich die Ursachen und den Nährboden für islamistischen Extremismus in Europa zwischen Leitkultur, Mittelalter-Verklärung und Tiktok. Und er warnt: "Auf Social Media ist der Resonanzraum ein Zigfaches höher als die 1000, die wir dort sehen", also bei der Demo in Hamburg.

Integrationsexperte und Soziologe Kenan Güngör in der
"Man muss keinen offenen Angriff auf die Demokratie in dieser Form dulden": Integrationsexperte und Soziologe Kenan Güngör über die islamistische Demo in Hamburg in der "ZiB 2".
ORF ZiB 2 Screenshot

Würde Güngör, wenn er darüber zu entscheiden hätte, Tiktok verbieten? "Wir bräuchten eine europäische Version davon, wo wir andere Standards einhalten, und wir brauchen eine europäische Regulierung." Nur auf europäischer Ebene könne man diesen globalen Phänomenen "ein Stück weit entgegentreten".

"Radikale Lösung sehr naheliegend"

Warum sind einzelne Jugendliche via Social Media offenbar so leicht von Vorgaben wie Enthaltsamkeit zu überzeugen? Menschen, die ein vielleicht "kriminelles, ungläubiges Leben" führten, fänden eine solche radikale Lösung "sehr naheliegend", sagt Güngör: "Nichts ist einfacher als eine solche Turbo-Radikalisierung, wo ich mich von allem entledige und auf dem rechten und richtigen Weg bin."

Eine verklärte Stimme erkläre da, "was der wahre Muslim ist, der Verlockungen und Verheißungen des Teufels des Westens stoisch widersteht. Das ist eine heldenhafte Pose und schon wieder cool." Denn, so erklärt Güngör das vermittelte Gefühl: "So schnell kann man sich nicht aufwerten, man ist was ganz, ganz Besonderes, man zählt zu einer auserwählten Gruppe."

Nicht nur die Leitkultur

Güngör hat zuletzt die von der ÖVP angestoßene "Leitkultur"-Debatte kritisiert: "Wenn ich Zugewanderte permanent wie Aussätzige anspreche, dann fühlen die sich so und denken, die wollen mich doch nicht wirklich hier." Als Wolf den Soziologen darauf anspricht, rät der "aufzupassen". Denn: Es gebe zwei große Nährböden für islamistische Radikalisierung, und beide zusammen seien das Problem:

In Hamburg Grenze überschritten

Also Handlungsbedarf in der muslimischen Glaubensgemeinschaft? Die Verklärung und fehlende Kontextualisierung sei "in der Tat ein Problem", sagt Güngör, eine "Baustelle". Zugleich aber stünden muslimische Organisationen unter Druck durch "popkulturelle islamistische Bewegungen" auf Social Media, die den Organisationen mit besonderer Attraktivität Konkurrenz machten.

Die Demonstration in Hamburg habe jedenfalls "eine Grenze überschritten", sagt Güngör: "In einer Demokratie müssen wir vieles ertragen. Aber ich glaube, man muss keinen offenen Angriff auf die Demokratie in dieser Form dulden." (Harald Fidler, 30.4.2024)

ZIB 2: Kenan Güngör: "Angriff auf Demokratie nicht zu dulden"
Warum die Integration in Deutschland aber auch in Österreich teilweise scheitert, erklärt der Soziologe Kenan Güngör.
ORF