Ein Gebäude auf dem Eis.
Der Ice-Cube-Detektor an der Oberfläche.
via REUTERS/MARC JACQUART, ICECU

Neutrinos werden nicht ohne Grund Geisterteilchen genannt: Sie wechselwirken kaum mit unserer alltäglichen Welt und durchdringen uns milliardenfach, ohne dass wir etwas davon merken. Als der Wiener Physiker Wolfgang Pauli sie postulierte, nannte er das Konzept einen „verzweifelten Ausweg“.

Inzwischen sind Neutrinos mithilfe aufwendiger Detektoren nachweisbar, der eindrucksvollste von ihnen ist in der Nähe des Südpols, kilometertief unter dem Eis. Dort befindet sich ein Raster aus tausenden lichtempfindlichen Sensoren. Trifft ein Neutrino aus dem All nämlich auf einen der Atomkerne im Eis, kann das einen hellen Lichtblitz erzeugen.

Drei Geschmacksrichtungen

Das wurde seit 2013 unzählige Male nachgewiesen. Bislang maß die Anlage allerdings nur Elektron- und Myon-Neutrinos. Neutrinos gibt es eigentlich in drei Varianten, die in der Teilchenphysik, ohne besonderen Grund, "Flavors", zu Deutsch "Geschmacksrichtungen" genannt werden. Sie sind Partner der drei schwereren Leptonen, des wohlbekannten Elektrons, des Myons und des Tau.

Im Labor hatte man das Tau-Neutrino bereits gesehen, doch der Nachweis kosmischer Tau-Neutrinos fehlte. Die Schwierigkeit lag einerseits an der Seltenheit von Tau-Neutrinos, andererseits daran, dass sie sehr ähnliche Signale erzeugen wie Elektron-Neutrinos. Beide bilden, im Gegensatz zum Myon-Neutrino, kugelförmige Blitze. Beim Tau-Neutrino ist der Blitz doppelschalig, eine Eigenschaft, die nur schwer zu messen ist.

Um die Signale zu sortieren, trainierten die Forschenden eine Künstliche Intelligenz (KI) für genau diese Aufgabe. Nachdem das Programm anhand von Simulationsdaten gelernt hatte, wie Tau-Neutrinos sich bemerkbar machen, ließ das Team das Programm auf die Rohdaten mit Billionen Signalen los.

Diese drei Grafiken stammen von unterschiedlichen Sensoren des Detektors und gehören zum selben Tau-Neutrino. Mit solchen Daten wurde die Künstliche Intelligenz trainiert.
IceCube Collaboration

Das Ergebnis waren sieben Kandidatensignale, die alle Anforderungen erfüllen. Davon berichtet die Ice-Cube-Kollaboration nun in einer neuen Studie im Fachjournal Physical Review Letters. Sowohl die Energie von 20 bis 1000 Teraelektronenvolt, als auch ihre Anzahl liegen genau im Bereich dessen, was theoretisch erwartet worden war. Auf ein einzelnes Elementarteilchen konzentriert ist das astronomisch viel und genügt, um im Eis einen sichtbaren Lichtblitz zu erzeugen.

"Die Entdeckung der sieben Tau-Neutrino-Kandidaten in den Daten in Kombination mit dem sehr geringen Hintergrundrauschen erlaubt uns die Behauptung, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass der Hintergrund so viele falsche Tau-Neutrinos erzeugt", sagt Studienautor Doug Cowen von der US-amerikanischen Penn State University. Die Chance für einen Zufall beziffert er mit eins zu 3,5 Millionen.

Abweichung von der Theorie

Bei dieser Studie wurde für das Training der KI mit den Bildern dreier Sensorenlinien von Ice-Cube gearbeitet. Diese Linien sind vertikal in Bohrlöcher im Eis eingeführte Kabel, an denen die Sensoren hängen. Künftig soll ein ähnlicher Zugang mit mehr als drei Linien versucht werden. Damit wäre es möglich, sogenannte Neutrinooszillationen zu beobachten.

Die Spur des kosmischen Neutrinos mit der Nummer Neutrino IC170922.
IceCube Neutrino Observatory

Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino wandeln sich auf dem Weg ins All ineinander um. Eigentlich sollten sie das nicht tun, laut der Theorie sind sie nämlich masselos. Doch es zeigt sich, dass sie tatsächlich eine winzige Masse besitzen und zwischen verschiedenen Geschmacksrichtungen "oszillieren" können. Für diese Erkenntnis wurde 2015 der Nobelpreis für Physik verliehen.

Die in Folge geplante, genauere Vermessung von Tau-Neutrinos soll also auch dem Auffinden weiterer Abweichungen von der Theorie dienen. Sie bietet, laut Cowen, die "faszinierende Möglichkeit, Tau-Neutrinos zur Entdeckung neuer physikalischer Phänomene zu nutzen".

Ice-Cube ist eines der aufwendigsten Physik-Experimente der Welt. Über 2000 Tonnen Material wurden dafür zum Südpol geflogen, darunter ein 500 Tonnen schwerer Bohrer. Er war nötig, um 86 Löcher ins Eis zu bohren, jedes von ihnen fast 2,5 Kilometer tief. In die Löcher versenkte man über 5000 lichtempfindliche Sensoren. Künftige Pläne gehen sogar noch weiter. China plant nach eigenen Angaben eine noch weit größere Anlage im Meer. (Reinhard Kleindl, 1.5.2024)